Fieberkurve der Kriegsdienstverweigerung
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht den Wehrdienst als den "Normalfall", den Ersatzdienst als die "Ausnahme" an. Um die Jahrhundertwende näherte sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer der 50%-Marke eines Geburtsjahrgangs. Die Grafik gibt diese "Fieberkurve" (gelbe Spalten) der Kriegsdienstverweigerung (KDV) anschaulich wieder.
Das Inlet-Schaubild vergleicht die Musterungszahlen (grüne Säulen) mit denen der KDV-Antragsteller (rote Säulen) von 1997 bis 2001. Deutlich wird, dass sich die Fieberkurve seit der Jahrhundertwende zwar abflachte, tatsächlich aber der Anteil der Kriegsdienstverweigerer angesichts der kleineren Geburtsjahrgangstärke bereits 2001 auf die 50%-Marke zuging.
Die Grafik verdeutlicht auch, dass das Gewissen offensichtlich dann besonders plagte, wenn eine Verschärfung der Bestimmungen erfolgte bzw. bevorstand, oder wenn ein medienwirksames Ereignis eine empfundene Gefährdung hervorrief (besonders deutlich wird dies am Beispiel des Zweiten Golfkriegs 1991, bei dem ein Einsatz deutscher Soldaten überhaupt nicht zur Diskussion stand).
Tarnen und Täuschen
oder der wundersame Schwund an Kriegsdienstverweigern
Bereits 2001 näherte sich die Zahl der anerkannten Kriegsdienstverweigerer (KDV), wie oben dargestellt, der 50%-Marke eines Jahrgangs. Die Grafik zeigt die Planungszahlen bundeswehrinterner Prognosen aus dem Jahr 2006 für das Wehrpflichtigenaufkommen bis zum Jahr 2014. Dabei wurde von einem Anteil an KDV von nur noch 28% eines Geburtsjahrgangs ausgegangen.
Det fiel uns uff... Sollte plötzlich ein Umschwung hin zum Dienst an der Waffe stattgefunden haben? Mitnichten. Der Zahlen-Trick ist ganz einfach: Man reduziere die Zahl der überhaupt "tauglichen" Männer durch eine Verschärfung der Tauglichkeitskriterien - und schon können sich weniger Gemusterte als KDV melden, da sie gar nicht erst "in Gefahr" sind, zu einem Dienst (Wehr- oder Zivildienst) herangezogen zu werden.
ANALYSE
Für alle, die sich näher mit der Problematik befassen wollen, haben wir die folgenden Überlegungen zusammengestellt.
Die Fakten
Die Planung der Bundeswehr ging für die Jahre 2004-2014 von einer durchschnittlichen Jahrgangsstärke von 415.000 Männern aus. Korrekt. Die jungen Männer gehörten den Geburtsjahrgängen 1986-1996 an und lebten bereits unter uns. Ihre Zahl stand also fest. Die Prognose sah wie folgt aus (in der Grafik siehe linke Säulen):
44%
|
eines Jahrgangs sind für die Bundeswehr nicht verfügbar |
davon: 4% nicht gemustert, 33% aus Tauglichkeitsgründen nicht geeignet, 4% sog. Wehrdienstausnahmen, 3% externer Bedarf (Bundespolizei, Polizei, Zivil- und Katastrophenschutz) |
56%
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eines Jahrgangs sind als tauglich gemustert und damit für die Bundeswehr "geeignet" |
Von diesem Pool der Geeigneten ausgehend rechnete die Bundeswehr (wahrscheinlich zu Recht) mit folgenden Zahlen:
50%
|
werden Kriegsdienstverweigerer (in Rot) |
50% sind für die Bundeswehr verfügbar |
Dies entspricht jeweils 28% eines Jahrgangs. Daraus folgt:
- Die gegenüber 2002 fast halbierte Zahl der KDV ergibt sich aus der hohen Zahl an nicht verfügbaren Männern (siehe Grafik).
- Von den 28% der für die Bundeswehr Verfügbaren (sog. Aufkommen) werden etwa zwei Drittel (18% des Gesamtjahrgangs) zum Wehrdienst herangezogen - die sogenannte "Ausschöpfung". Etwa ein Drittel (10% des Gesamtjahrgangs) werden trotz Verfügbarkeit nicht einberufen - der sogenannte "Ausschöpfungsrest".
Das Problem
Aus den o.a. Zahlen ergeben sich überraschende Erkenntnisse:
51%
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eines Jahrgangs (mindestens) leisten keinerlei Dienst |
49%
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eines Jahrgangs (höchstens) leisten einen Dienst (3% externer Bedarf, 18% Wehrdienstleistende und 28% anerkannte KDV). Dies setzt voraus, dass alle anerkannten KDV auch einen Ersatzdienst leisten. Sofern dies nicht der Fall ist, erhöht sich die Zahl der keinerlei Dienst Leistenden entsprechend. |
Damit entsteht ein doppeltes Gerechtigkeitsproblem:
- Es gibt ein Dienst-Gerechtigkeitsproblem, da mehr als die Hälfte eines Jahrgangs überhaupt keinen Dienst leistet.
- Es gibt ein Wehr-Gerechtigkeitsproblem, da von den für die Bundeswehr verfügbaren Männern nur etwa zwei Drittel tatsächlich Dienst leisten, fast ein Drittel aber nicht.
Auch hier fällt ein beschönigender Trick auf: Verglichen mit der Gesamtstärke eines Jahrgangs beträgt der Ausschöpfungsrest, also der trotz Verfügbarkeit nicht Einberufenen, nur 10%. Hört sich gut an. Vergleicht man diese Zahl jedoch korrekterweise mit der Gesamtzahl des sogenannten Aufkommens (also der für die Bundeswehr generell verfügbaren Männer), ergibt sich ein Prozentsatz von 28%!
Die Lösung
Was wären Lösungsansätze gewesen?
1. Mehr Wehrdienstplätze
Dies müsste allerdings finanzierbar und vor allem sicherheitspolitisch begründbar sein!
2. Eine weitere Verschärfung der Tauglichkeitskriterien
Damit würde das Aufkommen an tauglichen Wehrpflichtigen verringert; allerdings müsste dafür eine Erhöhung der Zahl der keinerlei Dienst Leistenden in Kauf genommen werden.
3. Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht"
Aber Vorsicht: Bei einer einjährigen Dienstzeit müssten annähernd 400.000 Plätze zur Verfügung gestellt werden; bei einer halbjährigen Dienstzeit immerhin noch rund 200.000 Plätze - mit allen dazu notwendigen Ausbildungs- und Aufsichtskapazitäten. Nimmt man dann auch noch die jungen Frauen hinzu, verdoppelt sich diese Zahl...
4. Abschaffung bzw. Aussetzung
der Wehrpflicht mit allen hinreichend diskutierten Folgen.
Nun lösen Sie mal schön... - so fragten wir vor 2011. Interessant: Die Mehrzahl war für eine Allgemeine Dienstpflicht, meist nur von einem viertel bis zu einem halben Jahr Dauer, für Männer ebenso wie für Frauen(!). Diese Option bleibt generell bestehen, wenngleich 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht eine andere Lösung gewählt wurde.
Und was füllte das Sommerloch 2018?
Richtig - der Ruf vereinzelter Politiker nach einer Allgemeinen Dienstpflicht. Lassen Sie diese bitte den Punkt 3 in der o.a. Auflistung lesen...